Kurzgeschichte aus dem Band La fin des haricots von Cornélia de Preux
Aus dem Französischen von Barbara Sauser
Erhältlich auf: https://www.plaisirdelire.ch/produit/la-fin-des-haricots
Weitere Werke der Autorin :
L’Aquarium : https://www.plaisirdelire.ch/produit/laquarium
Le chant du biloba : https://www.plaisirdelire.ch/produit/le-chant-du-biloba
Die kleine Stadt, in der lesen wie atmen war
Es war einmal eine kleine Stadt, in der man immerzu und überall las. An einen Baum gelehnt, im Gras ausgestreckt, auf einer Sitzbank, im Bus, beim Warten auf der Post, gemütlich zu Hause in einem weichen Sessel oder in der Badewanne.
In dieser kleinen Stadt war lesen also wie atmen. Es gab mehr Buchhandlungen als Apotheken, mehr Bibliotheken als Banken, mehr Druckereien als Garagen, mehr Verlage als Reisebüros. Die Häuser hatten fest eingebaute Bücherregale. Die Fussböden wurden von Amts wegen verstärkt, damit sie dem Gewicht der Bücher standhielten. Die Strassen waren nach Schriftstellern benannt. Auf den Plätzen stellten Statuen Kinder und Erwachsene beim Lesen dar.
Abends organisierte man an verschiedenen Orten Hauslesungen. Und das ganze Jahr hindurch fanden unzählige Wort- und Buchstabenveranstaltungen statt: Märchentag Märchennacht, Der Roman-Marathon,Die Woche der Kurzgeschichten, Der Krimi-Monat. Manchmal wurden auch komplizierte Diktate veranstaltet, ein Scrabble-Turnier, Riesenkreuzworträtsel. Im Radio und am Fernsehen liefen zahlreiche Büchersendungen, etwa Möchten Sie mit mir lesen?, Alles reimt sichoder DieSlam-Akademie.Es gab auch einen Event namens Bücher gewinnenund einen Guinness-Wettbewerb für die weltweit längste Lektüre am Stück.
So ist es nicht erstaunlich, dass die meisten der in der Stadt ausgeübten Berufe etwas mit Büchern zu tun hatten. Man war dort … helft mir, was arbeiteten die Bewohner der kleinen Stadt? Man war Schriftsteller, Märchenerzähler, Drucker, Verleger, Vertreter, Buchhändler, Bibliothekar, Buchbinder, Grafiker und Korrektor. Es gab auch mehrere Designer für Buchzubehör, deren Berufung es war, das Lesen hinsichtlich der Handhabung, der Position und des Lichts möglichst angenehm zu machen. Einer von ihnen erfand die Buchbojen für die Badewanne, ein anderer einen automatischen Seitenwender nach dem Prinzip der Vakuumansaugung. Ein dritter gelangte dank seiner Schlafmützen mit eingebautem Licht zu Reichtum. Diese Lämpchen verfügten über zwei sensationelle Eigenschaften. Einerseits nahm man ihren Lichtstrahl nur in einem Radius von fünfunddreissig Zentimetern wahr. Bei Schlaflosigkeit konnte man also den Thriller fertig lesen, ohne seine bessere Hälfte zu wecken. Zweiter Trumpf: Sie schalteten sich automatisch aus, sobald der Leser einschlief.
Und zudem lebten in der kleinen Stadt auch einige Originale, Freaks, Buchverrückte, die weder Zeit noch Mühe scheuten, um dem Schreiben zu dienen.
Fangen wir mit den Schriftstellern an. Der wichtigste war Stachanow-Schreibowski. Er verliess das Haus nur, wenn er wieder einen Bestseller signieren musste. Sonst hatte er keine Zeit. Schreiben, immer und immerzu schreiben, das war seine einzige Beschäftigung. Auch Zenodot muss unbedingt erwähnt werden. Er hatte einen roten Punkhaarkamm und trug eine flaschenbodendicke Brille. Trotzdem erkannte er niemanden. Als ob sein Gesichtsfeld nur Bücher umfasst hätte. Was ihm aber niemand übel nahm, denn er erwies der Gemeinschaft immense Dienste! Zenodot war eine unerschöpfliche Quelle der Wissenschaft, und man wandte sich an ihn, wenn man eine verschwundene oder vergriffene Schrift oder ein Werk aus einer bestimmten Disziplin suchte, ob sie nun alltäglich, spezialisiert oder selten war.
Dann waren da auch die Geschichtenerzählerin Memory, die unzählige Märchen, Fabeln und Legenden aus der ganzen Welt erzählen konnte, und die zarte, rothaarige Abrakadabra mit ihrem spatzenhaft kleinen Kopf, die Geschichten nach Mass erfand – traurige, lustige, übersinnliche, grausame. Alle wunderten sich, wie viel in ihrem zierlichen Kopf Platz fand … Und da war auch die Buchhändlerin Blätterberger. Siebenmal hintereinander war sie zur Buchhändlerin des Jahres gewählt worden. Wenn jemand nicht wusste, welches Buch er verschenken sollte, brauchte er ihr nur ein paar Stichworte über die zu beschenkende Person zu liefern, Steckenpferd, ein Hobby, eine aktuelle Sorge zu erwähnen, und schon sauste sie los und stöberte das passende Werk auf. Eine Perle! Wie schaffte sie das bloss, all diese Texte in sich aufzusaugen, sich jede Einzelheit einzuprägen, sich Figuren, Themen, Plots und Wendungen so genau zu merken? Vermutlich schlief sie nie, und ihre Lesegeschwindigkeit bewegte sich auf Formel-1-Niveau!
Auch Korrektor Füsschen muss erwähnt werden, ein so besessener, pedantischer Verfolger von Satzfehlern, Nachlässigkeiten, orthographischen und grammatischen Unstimmigkeiten, wie man sie nur selten antrifft. Und der Dichter Zungenbrech … er verfasste jeden Tag drei Gedichte und sprach stets in Versen und Reimen, sogar im Traum. Nicht zu vergessen der Buchbinder Schönhüller, der euch jedes Dokument im Handumdrehen ganz euren Wünschen entsprechend ausgestattet hätte, mit Einband aus silbernem oder goldenem Leder oder jeder anderen Lederart, aus Pergament, Büffel, Chagrin, Vachette, aus Stoff, Leinen, geprägtem Papier, Metall, Emaille, mit oder ohne Verschluss …
Die kleine Stadt hätte bis in ewige Zeiten ruhig im Rhythmus der Bücher weiterleben können.
Doch das Leben ist kein langes, ruhiges Buch.
Die Dinge veränderten sich, als Xud kam, ein Hyperaktiver, von denen es heute so viele gibt. Keinen Augenblick konnte er stillsitzen, er redete zu laut und hatte grosse Mühe, sich länger als drei Minuten auf eine Tätigkeit zu konzentrieren. Xud hasste das Lesen. Bildbände und Comics gingen gerade noch. Nackte Texte hingegen, blosse Buchstaben, Wörter und Sätze: ein Graus! Schon als kleiner Junge spielte er lieber Monopoly als Scrabble. Schon als kleiner Junge träumte er davon, in einem Haus ohne Bücher, einer Stadt ohne Bücher zu leben. Mag er doch leben, wie er will, werdet ihr sagen … Doch die Sache hatte einen Haken – Xud war ein Anführer, ein Tyrann, und er steckte die anderen mit seinen Dummheiten an. Zog ihnen den Speck durch den Mund: «Ihr werdet jeden Tag Champagner trinken und Tatar vom Koberind und Frutiger Alpenkaviar essen.» Verkündete überall, er habe mit der kleinen Stadt Grosses vor, wolle sie in eine trendige Metropole verwandeln, sie ihrer Kontemplation, dem Stillstand entreissen, aus ihr eine reiche, glamouröse Geschäftsstadt machen …
Nach und nach kletterte Xud die Leiter hoch, bis er Bürgermeister der kleinen Stadt war.
Die Firmenschilder änderten sich. Banken, Praxen für Psychiatrie, Versicherungsagenturen, Kleiderboutiques, Klimbimläden erlebten eine Blütezeit und verdrängten Buchhandlungen, Druckereien, Bibliotheken und Zubehördesignstudios. Stachanow-Schreibowski verlor seine Inspiration. Blätterberger verfiel in eine schwere Depression. Abrakadabra verwandelte sich in einen Tränenbrunnen. Zenodots Punkhaarkam ergraute, seine Belesenheit wurde löchrig wie ein Stück Emmentaler.
Die kleine Stadt verdummte.
Das ging eine, zwei, drei Generationen so.
Bis Alice zur Welt kam, genauer, bis zu dem Tag, als sie bei sich zu Hause zuhinterst in der Garage eine Bananenschachtel voller Schriften entdeckte. Eine Fundgrube!
Heute ist Alice 16. Ihre Freude am Lesen ist tief in den Genen verankert. Sie verschlingt alles, was ihr in die Hände und unter die Augen kommt: Mangas, Blogs, Heldensagen, Autofiktionen, Haikus, Speisekarten, Gebrauchsanweisungen, Shampoowerbung, Leasingverträge. Sie lauscht Hörbüchern, lädt Vampirromane auf ihr Tablet, lässt im Fitnesscenter, im Nagelstudio, in der Seilbahn, in den öffentlichen Toiletten und Raststättenshops ihre Lieblingswerke laufen.
Alice liest immerzu und überall. An einen Baum gelehnt, im Gras ausgestreckt, oder auf einer Sitzbank, im Bus, in der Warteschlange der Post, gemütlich zu Hause in einem weichen Sessel oder in der Badewanne …
Alice ist die Urenkelin von Stachanow-Schreibowski und Blätterberger.
Sie war es, die mir die Geschichte von der kleinen Stadt, in der Lesen wie Atmen war, erzählt hat.
Aus dem Französischen von Barbara Sauser